Programmtext 'temperaments'.
Die folgenden Texte stammen aus dem Programmheft für das ‘temperaments’-Festival, das im Oktober 2017 im bird’s eye jazz club Basel in Zusammenarbeit mit der Schola Cantorum Basiliensis stattfand. Johannes Keller und Andreas Böhlen waren für die Programmgestaltung verantwortlich.
Was ist Intonation? Wann ist eine Stimmung gut? Wann klingt etwas sauber?
Intonation ist die Kunst und Wissenschaft der Tonhöhen. Die westliche Musik wird im Wesentlichen von zwei Parametern dominiert: Zeit und Tonhöhe. Beide werden normalerweise nur rudimentär notiert und haben das Potenzial, in einer konkreten musikalischen Realität signifikant komplexere Differenzierungen zuzulassen oder zu erfordern als es die Notation erlaubt. In der konventionellen klassischen Musikszene hat sich in den letzten Jahrzehnten eine ausgesproche wörtliche Ausführung der Notation als Qualitätsmassstab durchgesetzt. Das gesteht Komponisten – ob als lebende Partner der ausführenden Musiker oder als historische Figuren – eine hohe Verantwortung zu, weil die ausführenden Musiker dem Notentext treu folgen. Im Bereich der historisch inspirierten Aufführungspraxis und des Jazz liegt jedoch eine gewisse Distanzierung zwischen Notentext und Musiker in der Natur der Musik selbst: Kurzschriften wie Generalbass oder Leadsheets geben Teile der künstlerischen Verantwortung vom Komponisten an den Musiker, der im Moment der Aufführung die konkrete Ausgestaltung übernimmt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass gerade in diesen Genres eine höchst reichhaltige Aufführungspraxis zu finden ist.
Diese Ausgabe der Veranstaltungsreihe des bird's eye jazz club in Zusammenarbeit mit der Schola Cantorum Basiliensis fokussiert auf Aspekte der Tonhöhengestaltung, die jenseits der gewohnten und heute stark standardisierten Praxis liegen. Die folgende Einführung liefert gewisse Hintergrundinformationen und Grundkenntnisse, die ein intensiveres und bewussteres Zuhören ermöglichen sollen. Intonation kann nie vollständig systematisch oder objektiv erfasst werden, deshalb steht die persönliche intuitive Wahrnehmung im Vordergrund. Die Wahrnehmung kann jedoch geschärft und gerichtet werden, was das Ziel dieser Übersicht ist.
Intonation entsteht immer im Moment und ist genauso ephemer wie die Musik selbst. Das heisst, die Entscheidung ob etwas 'sauber' klingt hängt stets vom Moment des Musizierens ab. Trotzdem ist eine gute Intonation nicht willkürlich oder beliebig. In der Gegenwart des Erklingens wirken ganz verschiedene Kräfte von allen Seiten auf die Intonation: eine innere Idealvorstellung von Intervallgrössen und der Qualität von Zusammenklängen, die Klangrealität der zur Verfügung stehenden Instrumente, eine zu attraktiven Regelbrüchen anregende Expressivität einer musikalischen Aussage, die Physik des Ortes. Die innere Idealvorstellung kann kulturell geprägt und kollektiv vorhanden sein, sowohl bei den Musizierenden wie bei den Zuhörenden, oder sie kann angelernt sein und einer abstrakten inneren Logik folgen, die dem Publikum nicht intuitiv vertraut ist. Viele Instrumente haben eine nicht oder nur wenig veränderbare Stimmung, die vor dem Musizieren eingerichtet werden muss und damit die intonatorische Freiheit des Spielers oder der Mitspielerinnen einschränkt. Gewisse Instrumente haben Klangeigenschaften, die andere Instrumente zu intonatorischen und mathematisch gesehen regelwidrigen Anpassungen zwingen, um einen Wohlklang zu erzeugen. Oft sind bewusste Abweichungen von der kanonischen Idealintonation erwünschte und gesuchte Mittel zur Steigerung der Expressivität und der rhetorischen Profilierung musikalischer Gesten. Schliesslich beeinflusst der Raum mit seinen individuellen Eigenschaften wie Nachhall, Resonanzen und einer subjektiv bewerteten Atmosphäre ebenfalls die Klanggebung und Intonation.
Um diese zahlreichen Faktoren zu gliedern und der Versuch unternommen werden kann, sie zu erklären, sollen folgende stets etwas nebulös verwendeten Begriffe eingeführt werden:
Das Tonsystem definiert den inneren Zusammenhang der Intervalle, die in einer Musikkultur, eines Stils, oder eines einzelnen Stücks verwendet werden. Dabei spielt nicht nur die technische Grösse des Intervalls eine Rolle, sondern auch eine ästhetische Wertung und die Assoziation von Bedeutungsfeldern. Die Terz beispielsweise kann als in sich ruhender und stabiler Wohlklang definiert werden, oder als drängender, instabiler und fast schon dissonanter Zusammenklang. Historische, in Quellen beschriebene Tonsysteme sind heute ein zentraler Bestandteil der historischen Aufführungspraxis. Das Tonsystem ist gewissermassen die Welt der Ideen in einem neoplatonischen Sinn.
Die Stimmung beschreibt die exakte Einrichtung eines Instruments, die nach den Ideen des Tonsystems gestaltet wurde. Je nach Instrument gibt es verschiedene einschränkende Voraussetzungen, wie beispielsweise die Anzahl der verfügbaren Tonhöhen pro Oktave, die eine gewisse systematische und kalkulierte Abweichung vom Tonsystem erfordern. Häufig ist die Idiomatik eines bestimmten Stils oder Genres untrennbar mit dem verwendeten Stimmungssystem verbunden, insbesondere im Fall von Instrumenten mit fixierten Tonhöhen.
Die Intonation beschreibt die ephemere Realität des Musizierens und legt eine weitere Schicht der Flexibilität über die rigiden Vorgaben des Tonsystems und der Stimmung. Tasteninstrumente kennen diese Flexibilität in den meisten Fällen gar nicht, während die menschliche Stimme oder Instrumente wie die Posaune uneingeschränkt flexibel sind. Die Intonation nimmt die Prinzipien des Tonsystems auf und kann gegebenenfalls eine kompromisshafte Stimmung perfektionieren, oder sie missachtet das System und eröffnet damit neue Dimensionen im wohlorganisierten Regelwerk.
Das Modell versucht mit mathematischen Mitteln Tonsysteme, Stimmungen und manchmal sogar die Intonation zu beschreiben und damit untereinander vergleichbar zu machen. Modelle sind Teil der Disziplin der Musiktheorie und entspringen primär einem passiv beobachtendem Verhalten. In der zeitgenössischen Musik gehen jedoch starke Impulse aus der Beschäftigung mit Modellen auch in die Kompositions- und Aufführungspraxis.
Im Festivalprogramm sind die prägendsten Tonsysteme vertreten, die aus der westlichen Musik hervorgegangen sind oder auf die westliche Musik eingewirkt haben. Thema des ersten Abends (24. Oktober) ist die archaische Gestalt reiner Intervalle, insbesondere der Quinte. Die Musik des 14. Jahrhunderts, die von der Gruppe um Corina Marti aufgeführt wird, nutzt das pythagoreische System, das als Verknüpfung von ausschliesslich naturreinen Quinten beschrieben werden kann. Unsere 'einfachen' Intervalle wie Oktave, Quinte, Quarte, grosse Terz und kleine Terz haben einen objektiven Zustand, der bereits von antiken Gelehrten wie Pythagoras beschrieben wurde: wenn ein Zusammenklang die gleiche innere Ruhe und Stabilität ausstrahlt wie ein einzelner Ton, handelt es sich um eine Konsonanz, wenn zwei Töne ihren Zusammenklang gegenseitig stören und seine Qualität vermindern, handelt es sich nicht um eine Konsonanz. Bei Konsonanzen besteht zwischen den klangerzeugenden Objekten stets eine 'schöne', also kleine ganzzahlige Proportion: zwei Saiten im Abstand einer reinen Quinte haben ein Längenverhältnis von exakt 3:2. Ein modernes Äquivalent zu dieser Sichtweise ist das Modell der Obertonreihe, in der zahlreiche als rein definierbare Intervalle vorhanden, die erwähnten Konsonanzen jedoch am dominantesten wahrnehmbar sind.
Das pythagoreische System beschränkt sich aus zahlenmystischen Gründen, die auf Pythagoras zurückgehen, auf die Proportionen 2:1 (Oktave), 3:2 (Quinte) und damit auch 4:3 (Quarte). Durch Kombination dieser Intervalle können weitere Intervalle als Resultierende konstruiert werden, beispielsweise der pythagoreische Ganzton 9:8, der als Kombination von zwei Quinten verstanden werden kann (beispielsweise g – d – a). Der Doppelton, der auch 'grosse Terz' genannt werden kann, besteht demnach aus zwei dieser Ganztöne bzw. aus vier aneinandergereihter Quinten: 81:64. Dieser Doppelton ist signifikant grösser als eine reine Terz (5:4), und wird deshalb in dieser Musik stets als instabiles und zu einer echten Konsonanz strebendes Intervall verwendet.
Das pythagoreische System ist bis heute das Fundament des westlichen Intervallverständnisses und bildet gleichzeitig ein Scharnier zu anderen Musikkulturen: Die traditionelle türkische Musik hat beispielsweise ebenfalls eine starke pythagoreische Tradition.
Ein intonatorischer Referenzpunkt für die musikalische Sprache von Mats Up bildet die Faszination der Band für die Qualitäten der Intervalle aus der Naturtonreihe. »In einem jahrelangen Prozess, in dem jeder der Musiker sein Instrument sozusagen von Grund auf neu gelernt hatte, wurde dieses Klangreservoir für die Improvisation nutzbar gemacht.« (Bandleader Matthias Spillmann über das Programm The Nature Of The Blues)
Sowohl in der Musik des 14. Jahrhunderts als auch im Blues ist es nicht immer möglich, alle tonsystematisch definierten Intervalle in ihrer idealen Form musikalisch zu nutzen. Aus der Spannung zwischen »Idee« und »Realität« entstehen charakteristische musikalische Momente und eine sofort erkennbare Färbung der Musiksprache.
Am zweiten Abend (25. Oktober) wird im Gegensatz dazu kaum je ein reines Intervall zu hören sein. Während am ersten Abend die ungetrübte Reinheit gewisser Intervalle die Ausstrahlung des Gesamtklangs bestimmt, liegt die Priorität des zweiten Abends auf den lustvoll eingegangenen Kompromissen der Temperierung. Eine unvermeidbare Eigenschaft von Tonsystemen, die ausschliesslich mit reinen Intervallen arbeiten, ist die Pluralität: Es werden potentiell unendlich viele verschiedene Tonhöhen benötigt, um beliebiges und uneingeschränktes Modulieren in einem reinen System zu ermöglichen. Deshalb ist die Musik in reinen Systemen häufig modulatorisch relativ stark eingeschränkt.
Um sich von dieser Einschränkung zu befreien und trotzdem eine übersichtliche Anzahl von Tonhöhen zu bewahren, sind Kompromisse nötig. Spätestens seit dem 16. Jahrhundert sind leicht verstimmte Intervalle in der Musikpraxis akzeptiert. Diese temperierten Intervalle stehen in ihrer musikalischen Bedeutung und Funktion noch immer für die Ideen der reinen Intervalle. Durch eine sorgfältig kontrollierte Stauchung der Quinten ist es beispielsweise möglich, den oben erwähnten pythagoreischen Doppelton so weit zu verkleinern, dass er in die Nähe einer reinen Terz rückt. Damit hat man zwar die Reinheit der Quinten geopfert, dafür das als stabile Konsonanz empfindbare Intervall der Terz erhalten. Durch die Einführung und Akzeptanz vieler solcher Unschärfen wird die unübersichtliche Vielfalt von tonsystematisch definierten Tonhöhen reduziert auf ein Raster von üblicherweise zwölf Tonhöhen pro Oktave, von denen jede mehrere Funktionen übernehmen kann. Seit dem späten 17. Jahrhundert sind Systeme in Gebrauch, die die Pluralität der Tonstufen auf zwölf reduzieren und dabei jede beliebige Funktion jeder dieser zwölf Stufen zuschreibt. In anderen Worten arbeiten diese Systeme mit einem geschlossenen Quintenzirkel. Das lässt die kompositorischen Möglichkeiten explodieren. Plötzlich stehen höchst komplexe Modulationsvorgänge zur Verfügung, und vielschichtige Spielereien mit der Ambivalenz der Funktionen bieten sich an. Solche Systeme werden als unregelmässig temperierte Stimmungen mit geschlossenem Quintenzirkel bezeichnet, oder auch als wohltemperierte Stimmungen. Im 19. Jahrhundert kulminiert die Praxis der wohltemperierten Stimmungen in der gleichstufigen Oktavteilung, einer Lösung, die an Kompromisshaftigkeit und Anonymisierung der intervallischen Funktionen nicht zu übertreffen ist. Heute ist diese gleichstufige Stimmung zum einzigen relevanten Standard für alle Instrumente geworden.
In diesem Konzert spielt das Ensemble um Sebastian Wienand Kompositionen, die ausdrücklich von den uneingeschränkten tonartlichen Möglichkeiten einer wohltemperierten Stimmung Gebrauch machen. Obwohl alle denkbaren Tonarten gleichzeitig zur Verfügung stehen, entstehen durch die leichte Unregelmässigkeit der Temperierung unterschiedliche Färbungen der Tonarten. Wie Rousseau in seinem Artikel »Tempéraments« in Diderots Encyclopédie schreibt, sind die einfachen, gebräuchlichen Tonarten resonant und wohlklingend, während die seltenen, entfernten Tonarten gespannt und beinahe dissonant klingen, und für »pièces d'expression« reserviert sind.
Die Stücke von Andreas Böhlen, präsentiert von seiner Band Crank, nehmen die Idee der charakteristischen Einfärbung von Tonarten auf und antworten auf die Farbenvielfalt der hochbarocken Stimmungen mit einer fein abgestuften Dosierung von Vierteltönen. Die Vierteltönigkeit basiert auf der Halbierung des Halbtons, also einer gleichstufigen 24-fachen Teilung der Oktave. Darin ist die konventionelle zwölfstufige Stimmung enthalten, bietet aber durch die vierteltönige Variation der gewohnten Harmonien und Melodien eine breite Palette von Einfärbungen, die an diesem Abend die Effekte der unregelmässigen barocken Stimmungen spiegelt.
In den Konzerten vom 26. und 27. Oktober treffen zwei wind bands aufeinander, die ganz ohne feste Stimmung arbeiten können, da sie keine Instrumente mit fixierten Tonhöhen in ihrer Besetzung haben. Les haulz et les bas nutzt als Alta-Capella-Besetzung die Instrumente, die für die Musik des 15. Jahrhunderts typisch sind: Schalmei, Pommer, Posaune, Dudelsack, Zugtrompete, Busine. Sie sind prinzipiell frei, jedes beliebige Tonsystem anzuwenden. Tatsächlich steht hier das Streben nach möglichst reinen Intervallen im Zentrum, wobei die dadurch entstehende Pluralität von Tonstufen intuitiv und kontextabhängig kontrolliert wird und nicht als spielpraktisches oder systematisches Programm an die Oberfläche kommt, wie es bei Tasten- oder Bundinstrumenten der Fall wäre.
Das Magnetic Ghost Orchestra besteht neben Stimmen, Holz- und Blechbläsern auch aus Gitarre und Keyboards, was die Band aber nicht hindert, trotzdem komplexe Stimmungsphänomene zu erkunden und Prinzipien aus der Mikrotonalität anzuwenden. Auch bei ihnen spielen reine Intervalle eine wichtige Rolle, aber auch die Nutzung von nicht reinen, aber trotzdem tonsystematisch definierten Intervallen.
Intonation ist nie nur eine nackte Tonhöhe, sondern immer untrennbar mit der Klangfarbe und der Tongebung verbunden. In Bläserbesetzungen ist dies besonders eindrücklich zu beobachten. Das Magnetic Ghost Orchestra arbeitet gezielt mit intonatorischen Effekten und deren Wechselwirkung mit der Klangfarbengestaltung.
EXKURS: Mikrotonalität ist insofern ein problematischer Begriff, als dass er üblicherweise als alles definiert wird, was kleiner als ein gleichstufig temperierter Halbton ist. Damit sind sämtliche historischen Stimmungen, aber auch die zeitlose reine Stimmung als mikrotonal zu bezeichnen. Diese Definition des Begriffs der Mikrotonalität ist symptomatisch für die Dominanz der gleichstufigen Stimmung, denn jedes Intervall, das nicht im Raster dieser Stimmung zu finden ist, gehört ins Reich der Mikrotonalität. Der von Martin Kirnbauer eingeführte Begriff der Vieltönigkeit wird einem historischen Verständnis von Mikrotonalität besser gerecht, weil die vielstufige (üblicherweise unregelmässige) Teilung der Oktave im historischen Kontext stets ein Nebeneffekt des Umgangs mit reinen konventionellen Intervallen ist und nicht die explizite Absicht des Systems.
Am 27. Oktober wird eine radikale Lösung für das Problem der oben beschriebenen Pluralität der Tonhöhen vorgestellt. Statt sämtliche Intervalle zu temperieren und so zu verbiegen, dass sie sämtliche denkbaren Funktionen übernehmen können, wird an diesem Abend die Oktave in 31 Stufen geteilt. Diese Teilung geht auf Nicola Vicentino zurück, der 1555 in Rom sein Traktat L'antica musica ridotta alla prattica moderna veröffentlichte, in dem er ein 31-stufiges Cembalo und eine ebensolche Orgel beschreibt. Vicentino gelang es, das moderne Stimmungssystem seiner Zeit mit der Intervallik der drei antiken griechischen Genera zu verbinden. Das moderne Stimmungssystem war zu seiner Zeit die Mitteltönigkeit, die den Intervallen der reinen Stimmung verhältnismässig nahe kommt, aber auf zwölf Stufen reduziert bezüglich der Tonartenvielfalt ausgesprochen eingeschränkt ist. Die drei Genera »diatonisch«, »chromatisch« und »enharmonisch« definieren die Intervallgrössen, die für ein bestimmtes Stück verwendet werden dürfen. Der diatonische und chromatische Genus kann in der normalen mitteltönigen Stimmung abgebildet werden, für den enharmonischen Genus muss jedoch ein neues Intervall eingeführt werden: die Diesis, die etwa einem Fünftelton entspricht. Ein mathematischer Zufall führt diese beiden Welten in der 31-stufigen Teilung der Oktave zusammen: Der 31ste Teil der Oktave entspricht einer Diesis, und jedes mitteltönige Intervall kann im 31-stufigen Raster wiedergefunden werden. Auf einer Klaviatur mit 31 Tasten pro Oktave stehen sämtliche denkbaren Tonarten im mitteltönigen System zur Verfügung.
Das Ensemble um Johannes Keller führt mit Stimmen und einer reich besetzten Continuo-Gruppe Musik des 16. und 17. Jahrhunderts auf, die die 31-fache Oktavteilung pointiert und expressiv nutzt. Die beiden Tasteninstrumente Arciorgano (Bernhard Fleig 2016) und Clavemusicum Omnitonum (Markus Krebs 2016) sind das Resultat des zweijährigen KTI-Forschungsprojekts »Studio31«, das unter Leitung von Johannes Keller bis August 2017 an der Hochschule für Musik Basel in Zusammenarbeit mit der Schola Cantorum Basiliensis durchgeführt wurde.
Hans Feigenwinter wird auf diesen beiden Tasteninstrumeten dialogisch auf die historischen Stücke eingehen. Er schreibt dazu:
»Die ersten fünf Jahrzehnte meines Lebens habe ich Musik gehört und bald einmal gespielt, welche die Oktave in zwölf gleichmässige Abstände teilt. Irgendwann merkte ich, dass ein Teil meines Strebens als Komponist und noch mehr als Improvisator darin besteht, meine Vorstellungskraft innerhalb dieses wunderbaren Systems ständig zu verbessern, im Versuch, mich dem Ideal der absoluten Imagination im temperierten System zu nähern. Dass die Schärfe der Vorstellung mit Zunahme der harmonischen und texturalen Dichte sowie des Tempos allmählich verblasst, gab ich mir selbst erst nach langer Zeit zu. Musik wird auch durch Limiten und Unzulänglichkeiten geformt, seien diese nun in unserem Gehirn, unseren Händen oder unseren Instrumenten angelegt. Das unglaublich inspirierende der Limite an sich rückt bei dieser Auseinandersetzung ins Zentrum.
Was ich hier improvisiere, ist entschieden nicht von der Vorstellung geleitet, denn diese ist nun weitgehend bedeutungslos; sie ist sich nicht gewohnt, die Oktave anders als durch zwölf zu teilen. Mit dem besten Gewissen lasse ich mich auf eine Art des Musikmachens ein, bei der das Ausprobieren und Nichtwissen den Ton angeben.
Meine einzige Erfahrung, die wenigstens in diese Richtung zielt, ist eine Hörspielmusik, entstanden vor ein paar Jahren; auf Geheiss des Regisseurs dachte ich mir eine neue Klavierstimmung aus, mit der ich mich danach vertraut machen konnte. Also schon dort: Kreation nicht aufgrund von Vorstellungsvermögen, sondern dem Gegenteil: Beobachtung.
Doch geschah das immer noch auf einer Tastatur, welche die Oktave zwar nicht in gleichmässige, aber immer noch zwölf verschiedene Töne teilte. Auf einer gänzlich neuen Tastatur zu spielen, erfordert nun die Auseinandersetzung mit elementarsten spieltechnischen Fragen wie Fingersatz und Handhaltung. Dass die Topografie des Instrumentes auch eine Inspirationsquelle sein kann, habe ich bisher kaum gelten lassen; hier werde ich dazu gedrängt!« (Hans Feigenwinter, 2017)
Am 28. Oktober wird das Arciorgano in einer anderen Grundstimmung zu hören sein: diesmal mit 36 Stufen pro Oktave, und nicht mehr gleichstufig geteilt. Dieses System, das von der Studio31-Forschungsgruppe als »adaptiv-rein« bezeichnet wird, geht ebenfalls auf Vicentino zurück und hat weniger die Nutzung der enharmonischen Diesis zum Ziel, sondern vielmehr die uneingeschränkte Perfektion von Harmonie und Melodie, ein System »nelquale si contiene tutta la perfetta musica, con molti segreti musicali« (»in welchem sich die ganze perfekte Musik mit vielen musikalischen Geheimnissen befindet«), wie Vicentino auf der Titelseite seines Traktats schreibt. Die Orgel hat somit einen kaum eingeschränkten Modulationsraum und gleichzeitig die Fähigkeit, über jeder Tonstufe reine Konsonanzen zu produzieren: Jeder konsonante Dreiklang ist vollkommen rein gestimmt. Das System entfaltet auf dem Papier eine schwindelerregende Komplexität, ist jedoch durch das geniale Klaviaturdesign relativ komfortabel greifbar. \\
Das Vokalensemble Domus Artis verbindet diese Klangwelt mit den chromatischen Madrigalen von Michelangelo Rossi, bei denen die Reinheit der Klänge durch unerhört scharfe und abrupte Modulationen kontrastiert werden.
Der Saxophonist Hayden Chisholm und das Vokalensemble um Dragana Tomić arbeiten mit traditioneller serbischer Musik und transformieren diese Klanglichkeit in musikalische Strukturen mit einer komplexen Intervallik. Auch in dieser Musik führt die Suche nach den archaischen reinen Intervallen zu einer Vielschichtigkeit und Pluralität, die nicht durch Temperierung gebändigt wird, sondern in seiner ganzen Komplexität angenommen und musikalisch genutzt wird.
Am 29. Oktober zeigen Tanja Vogrin und Richard Köchli, dass Instrumente mit fixierten Tonhöhen die expressive Flexibilität der Stimme nicht zwangsläufig einschränkt. Tanja Vogrin begleitet sich auf der Harfe und singt Lieder aus dem späten 16. und frühen 17. Jahrhundert, bei denen die unendlich differenzierten Flexionen der Sprache die musikalische Gestaltung stärker definieren als ein intellektuell oder instrumental definiertes Tonsystem.
Eine direkte Spiegelung dieses Prinzips ist im Blues zu finden, der die gleichen musikalischen Mittel verwendet, sie jedoch zu einer ganz anderen musikalischen Idiomatik verbindet.
In beiden Stilen liegt gerade in der unverzichtbaren, textlich begründeten Abweichung vom intonatorischen und rhythmischen System der besondere Reiz dieser Musik. Auch hier verschwimmt die Grenze zwischen Tonhöhenorganisation und Klangfarbenspiel: Intonation und Färbung verschmelzen beinahe zu einem einzigen Aspekt. Verzichtete man auf diese Abweichungen, wäre die Musik entstellt und kaum zu erkennen.