Stimmungen.
Dieser Text wurde im Katalog der ZeitRäume Biennale Basel 2017 abgedruckt (S. 72-73), herausgegeben von Bernhard Günther. Eine PDF-Version des Textes ist online verfügbar. Der Text nimmt auf das Werk ‘ceremony’ von Georg Friedrich Haas Bezug, das unter Mitwirkung von Johannes Keller im September 2017 im Kunstmuseum Basel uraufgeführt wurde.
Das Instrumentarium von Georg Friedrich Haas’ ceremony deckt alle relevanten Tonsysteme und Intonationsprinzipien der westlichen Musikgeschichte ab. Zur Klangrealität jedes Instruments gehören nicht nur Aspekte wie dessen Klangfarbe, Abstrahlung und klangliche Modulationsfähigkeit, sondern auch die für das Instrument typische Art der Stimmung bzw. Intonation. Da Stimmung und Intonation keine Spuren hinterlassen und genauso ephemer wie die Musik selbst sind, kann ihre historische Existenz vor der Entwicklung präziser objektiver Messmethoden nur hypothetisch mit Hilfe von historischen Artefakten als Indizien rekonstruiert werden.
Das naturwissenschaftliche Rüstzeug und das musikpraktische Vokabular bestehen erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und erlauben seither den heute üblichen objektiv-reproduktiven Umgang mit Stimmungen und Intonation. Vor dieser Technologisierung standen Musikern und Musiktheoretikern zwei Möglichkeiten zur Auswahl: die Verwendung abstrakter theoretischer Modelle zur Beschreibung von Intervallgrössen und ihren systematischen Zusammenhängen oder die Anwendung einer Handwerkspraxis, die auf der eigenen Wahrnehmung und einer langfristigen Schulung durch einen Meister seines Fachs basierte.
Die theoretischen Modelle sind für modern denkende Menschen leicht und intuitiv nachvollziehbar, da sie quantitative und präzise Angaben machen, die ohne weitere Interpretation, allerdings aber nur mit Hilfe von junger Technologie in klingende Systeme übersetzt werden können. Auf diese Weise können beispielsweise die oft schwindelerregend komplexen und von abstrakter Schönheit geprägten Systeme der Renaissance mit verhältnismässig kleinem Aufwand elektronisch realisiert werden. Dabei ignoriert man zwangsläufig die physische Realität von Musikinstrumenten. Diese ist so vielschichtig und unberechenbar, dass nur der erwähnte handwerklich-intuitive Zugang zu erfüllenden und musikalisch kostbaren Resultaten führt.
Um diesen Zugang zu erlernen und zu kultivieren – insbesondere im Kontext von historischen Systemen – sind die Instrumente selbst die wichtigste Referenz: durch jahrelange Erfahrung lernt ein Musiker, die idealen Resonanzbereiche und Zusammenklänge auf seinem Instrument zu nutzen und gezielt einzusetzen. Dabei entwickelt sich eine starke Vorstellungskraft und selbstbewusste Beurteilung von Stimmung und Intonation, die nicht nur auf angelernten, intellektuell nachvollzogenen theoretischen Modellen basiert, sondern auch aus dem Klang des eigenen Instruments in seiner vollumfassenden Komplexität herauswächst.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass jede Epoche ihr eigenes Instrumentarium hervorbrachte, das nicht nur den logistischen Anforderungen des jeweils vorherrschenden Musikstils genügt, sondern unauflöslich mit den ästhetischen Idealen der jeweiligen Tonsysteme und Intonationsprinzipien verwoben ist. Allerdings erzwingen Faktoren wie Spielbarkeit und Materialbelastbarkeit oft eine ausgeprägt kompromisshafte Annäherung an diese Ideale. Aus diesen Kompromissen und Imperfektionen entsteht wiederum ein eigener Reiz, der eine unverkennbare Charakterstik entstehen lässt.
Als Besonderheit sind die drei prototypischen enharmonischen Tasteninstrumente der Renaissance zu erwähnen, die mit 24 (Cimbalo Cromatico), 31 (Clavemusicum omnitonum) und 36 (Arciorgano) Tasten pro Oktave einer theoretischen Ideallösung (die prinzipiell keine Begrenzung auf zwölf Stufen pro Oktave kennt) wesentlich näher kommen können als Instrumente mit zwölfstufigen Klaviaturen. Diese Instrumente unterscheiden sich in Bezug auf ihr Tonsystem in zwei Aspekten von konventionellen Tasteninstrumenten: einerseits erweitern sie die tonale Reichweite des Systems, sodass Tonartenbereiche und Modulationsdistanzen spielbar werden, die sonst aufgrund der Einschränkung auf zwölf Tasten pro Oktave unerreichbar wären, andererseits verbessern sie die Annäherung von Intervallen an ihre proportional reine Form. Beide Ideale werden jedoch nicht bis zur Vollkommenheit erreicht, dafür wären nochmals signifikant mehr Tasten notwendig.
Die drei erwähnten Instrumente, die sich in ihrer vielgliedrigen Klangrealität bereits in Richtung der Wahrnehmungsgrenze bewegen machen deutlich, wie stark die Materialität von Musikinstrumenten den Umgang mit Begriffen wie Perfektion und Vollkommenheit prägt: durch ihre einzigartige Komplexität befinden sich diese Tasteninstrumente zwar wesentlich näher an theoretischen Modellen als andere Instrumente, zeigen aber auch auf sinnliche Art und Weise die Unmöglichkeit und Fragwürdigkeit uneingeschränkter Perfektion.